Unter der spanischen Sonne lebt´s sich anders

28 Grad. Die Mittagssonne brennt. Kein Lüftchen bewegt sich. Die Straßen sind wie leergefegt. Zeit für Siesta.

Die 75-jährige Schweizerin Lotti Fernandez Hess hat sich innerhalb weniger Monate den spanischen Gepflogenheiten angepasst. „Ich bin halbe Spanierin, die Siesta ist mir heilig“, erklärt sie.
Seit sieben Jahren lebt sie nun schon mit ihrem Mann in einer prachtvollen Finca am Meer, in Els Poblets, einem kleinen Ort an der Costa Blanca zwischen Valencia und Alicante. Ob ihr die Schweiz fehle? Sie schüttelt entschieden den Kopf. „Nein, überhaupt nicht.“ Einmal in den sieben Jahren war sie dort. „Da halte ich es nicht mehr aus.“ Dieses Gedränge, das Gehetze, das übertriebene Pochen auf Pünktlichkeit, das alles will sie nicht mehr.
Das hatte sie auch lange genug als Inhaberin eines Lebensmittelgeschäfts und Minigolfplatzes. Obwohl ihr Mann Spanier ist, war sie es, die den Entschluss fasste, nach Spanien zu ziehen. Isidoro Fernandez Lopez zog in den 60er Jahren von Madrid in die Schweiz, nach Stein am Rhein, wo er seine jetzige Frau kennen lernte.
Ihrem Entschluss stand er ein wenig skeptisch gegenüber. Doch seine Bedenken, ob die Rente für eine neue Existenz in Spanien ausreiche, schlug seine Frau rigoros in den Wind. Sie machte Nägel mit Köpfen: Jetzt oder nie. Und es hieß „jetzt“.

Jetzt liegt sie am Pool, in der Ferne rauscht das Meer, sie schließt die Augen, genießt die Ruhe. Nie hat sie ihre Entscheidung bereut. „Das ist das, was ich wollte.“ Und es scheint ihr gut zu tun. Der 75-Jährigen sieht man ihr Alter nicht an. Sie könnte sich glatt als 60-Jährige ausgeben. „Alt werde ich erst, wenn ich es merke“, sagt sie.
Vielleicht hinterlässt die Zeit bei ihr so wenige Spuren, weil sie keine Gedanken daran verschwendet. „In Spanien verlieren Stunden und Minuten an Bedeutung.“ Für sie stand von Anfang an fest: “Ich werde ein spanisches Leben führen und nicht das eines Touristen“. Und das ist ihr gelungen. Obwohl sie sich mit ihrem Mann ausschließlich in Schweizerdeutsch unterhält, spricht sie mittlerweile fließend spanisch, was in Anbetracht ihres Alters und der Tatsache, dass 60 Prozent der Einwohner in Els Poblets Ausländer sind, deren spanischer Wortschatz hauptsächlich aus cerveza und café con leche besteht, ungewöhnlich ist.
Aber Lotti Fernandez wollte sich bewusst ein spanisches Umfeld schaffen. Mittlerweile hat sie an der Costa Blanca mehr Freunde als in der Schweiz. „Wie sollte ich dort auch Freundschaften pflegen, wenn ich von 7 bis 24 Uhr arbeiten musste? Hier habe ich Zeit.“ Morgens um neun Uhr trifft sie sich regelmäßig mit ihren spanischen Freundinnen zum Kaffeeklatsch.
Dann folgt die zweite Etappe – ein Kaffeekränzchen mit sämtlichen Geschäftsfrauen, die es in Els Poblets gibt, was sich viel anhört, aber bei 3.000 Einwohnern nur eine Handvoll ist. Bei einem almuerzo – einem zweiten Gabelfrühstück – werden die Ereignisse des letzten Tages diskutiert, natürlich alles in spanischer Lautstärke.
Alle neuen Informationen werden dann erst einmal bei einer ausgiebigen Siesta verarbeitet. Und dann? Dann schaut man, was der Tag noch so bringt. Genau das ist es, was Lotti Fernandez Hess so liebt. „Die Mentalität ist freier. Die Spanier leben, um zu leben.“

Isidoro neben ihr nickt. Auch er hat die Entscheidung, sich in Spanien niederzulassen, nie bereut – im Gegenteil. Mittlerweile kann er sich keinen schöneren Wohnort als diesen vorstellen. Verträumt blickt der 70-Jährige zu den drei Fahnen auf seinem Dach empor.
Sachte bewegen sie sich im Wind – die spanische, die schweizerische und die valenzianische. Das Haus, in dem sie jetzt wohnen, wurde nach seinen Plänen gebaut. Vor allem die Dachterrasse der Villa Soleada (Sonnenhaus) ist ein echter Blickfang. Sie ist mit Dutzenden von Tonkrügen umsäumt, aus denen üppiger Oleander herausragt und einen süßlichen Duft verströmt.
„Viele hier sagen, es sei das schönste Haus im ganzen Dorf“, berichtet er stolz. Wenn seine Frau mit dem Quad zu ihrem Kaffeekränzchen fährt, werkelt er am Haus herum oder greift zum Pinsel. Ölmalerei ist seine Leidenschaft. Um 12 Uhr heißt es dann Frühschoppen. Die Regel „kein Bier vor vier“ hat er in den Wind geschlagen. In einer Bar diskutiert er mit seinen Kollegen die neusten Fußballergebnisse. Dann kehrt er zum Mittagessen heim.

Isidoro kann sich ein Gähnen nicht verkneifen. Die körperliche Arbeit, das Bier und das bocadillo (belegtes Brötchen) zeigen ihre Wirkung und fordern die Siesta ein. Er klappt den Liegestuhl auf und sucht sich neben seiner bereits selig schlummernden Frau ein schattiges Fleckchen. Die beiden haben ihren Platz gefunden.

Charlotte Wolter, 06/10

google center mitte