Begutachtung von Pflegefällen

"Ich bin doch kein Kriminalbeamter, der auf der Suche nach einem Mörder ist!" Das sagt Dr. Axel Haines, einer der beiden Ärzte, die an der Costa Blanca Pflegefälle begutachten:
"Da mein Mann einen Bierbauch hat, kann er sich nicht mehr allein die Fußnägel schneiden. Das muss ich nun alle vier Wochen machen. Kann ich dafür Pflegegeld beanspruchen?" Eine derart ernst gemeinte und gleichzeitig (sau-)dumme Anfrage soll tatsächlich kürzlich bei einer deutschen Krankenkasse eingegangen sein. Klar, das sie negativ beschieden wurde.
Ganz anders sieht es mit den Pflegefällen an der Costa Blanca aus. "Die meisten von Ihnen leiden an Krankheiten oder Altersbeschwerden, die die Hilfe einer anderen Person unbedingt erforderlich machen, weil sie allein nicht aufstehen, sich allein nicht anziehen, ja auch nicht alleine auf die Toilette gehen können", weiß Dr. Axel Haines aus Dénia, der für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK) in Essen als Gutachter tätig ist.
Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt ist einer von zwei Gutachtern, die wegen ihrer langjährigen Erfahrung mit Kranken in Spanien für Pflegefälle zwischen La Manga und Dénia ausgesucht und mit der Aufgabe betraut wurden, jeweils elf Seiten lange "Pflegebegutachtungsberichte" mit über 50 Fragen zu erstellen. Nach einem halben Jahr Tätigkeit mit der Problematik vertraut, stellte er sich den Fragen der "Costa Blanca Nachrichten".
Zunächst einmal: Was muss jemand, der an der Costa Blanca wohnt, aber in Deutschland bei einer Krankenkasse versichert ist, tun, um Pflegegeld zu bekommen?
"Die Krankenkasse beauftragt den MDK in Essen mit der Begutachtung, und dieser wendet sich wiederum an seine spanische Außenstelle auf Mallorca, Dr. Ulrich Rosen im Ärztehaus in Palma. Und dieser schickt mir dann die Unterlagen zu. Das hört sich zunächst fürchterlich umständlich an, landet aber trotz deutscher Bürokratie meistens schon nach drei bis vier Wochen zur Begutachtung des Falles auf meinem Schreibtisch."
Nun setzen Sie sich ins Auto und "überfallen" den Antragsteller.
"Ich bin doch kein Kriminalbeamter, der auf der Suche nach einem Mörder ist! Im Gegenteil. Ich rufe vorher an und vereinbare einen Besuchstermin. Und ich werde dann auch gleich das Gespräch mit der Bemerkung beginnen, dass ich kein angestellter Prüfer der Krankenkasse oder der Pflegeversicherung bin, sondern ein ganz normaler Arzt, ein freier Mitarbeiter, der mit der Begutachtung beauftragt ist. Das schafft schon am Anfang ein gewisses gegenseitiges Vertrauen."
Und dann wird begutachtet. Wie?
"Natürlich mit offenen und wachen Augen gehe ich Punkt für Punkt des Fragenkataloges durch. Das nimmt manchmal über eine Stunde in Anspruch."
Die häufigsten Fälle sind?
"Ich führe keine Statistik und wäre auch nicht befugt, sie preiszugeben. Doch gibt es viele Fälle der halbseitigen Lähmung beispielsweise nach einem Schlaganfall. Diese bedauernswerten Patienten benötigen meistens für alle Verrichtungen des täglichen Lebens die Hilfe einer Person. Das fängt bei der Zubereitung des Essens an und hört beim Zur-Toilette-Gehen auf.
Probleme, nichts als Probleme. Oder denken Sie an Rollstuhlfahrer und deren Probleme. Wenn beispielsweise Türen im Haus nicht umgebaut, verbreitert wurden, kommen sie nicht hindurch. Dann benötigen Sie Rampen, Geländer, Haltegriffe.
Probleme, nichts als Probleme, die bei einem Gelähmten, wenn er keinen elektrischen Rollstuhl hat, dazu führen, dass er überall hingefahren werden muss… Oder an Alzheimer-Kranke, die ab einem bestimmten Verwirrtheitsgrad praktisch keinen Augenblick mehr ohne Aufsicht gelassen werden dürfen."
Hat man auch schon versucht, Ihnen ein X für ein U vorzumachen?
"Darüber rede ich nicht gerne. Also sage ich hier, nehmen wir einmal an: Es meldet sich beispielsweise ein Kranker beim ersten, unerwarteten Anruf am Telefon und erklärt im Vorgespräch, dass er permanent bettlägerig ist und überhaupt nicht aufstehen kann. Das glaube ich natürlich zunächst. Wenn ich dann aber ins Haus komme und feststelle, dass das Telefon in einem anderen Zimmer steht und es auch keinen Mobilanschluss gibt, dann werde ich zumindest hellhörig."
Das einzige Beispiel?
"Falls jemand erklärt, dass er rechtsseitig vollständig gelähmt ist, also weder Arme noch Beine bewegen kann, und mir dann … wohl aus Freude darüber, dass die Täuschung geglückt ist, mir bei der Verabschiedung im Überschwang der Gefühle die rechte Hand ausstreckt, dann….werde ich wohl etwas "kriminalistischer" bei der Beurteilung des Falles vorgehen.
Doch ist der Fragenkatalog im übrigen dermaßen ausgetüftelt, von einem roten Faden durchzogen, dass sich bei der Beantwortung schon jeder verheddert, der vielleicht versuchen will, seinen Krankheitszustand zu verschlechtern. Das alles sind aber wirklich Einzelfälle.
Wenn der Antrag anschließend von einem Gutachter in Deutschland anhand Ihrer Feststellungen und dann von der Pflegekasse der Versicherung positiv beschieden wird?
"Dann erhält die Pflegeperson – wieder muss ich sagen: trotz deutscher Bürokratie – schon meist nach einem weiteren Monat das ihm bewilligte Pflegegeld in der jeweiligen Pflegestufe pünktlich überwiesen."
Und dann kontrollieren Sie?
"Ja, je nach Pflegestufe werden regelmäßige Kontrollen seitens der Kasse verlangt. Ich schaue dann also wieder nach vorheriger Anmeldung nach, ob die häusliche Pflege auch wirklich gewährleistet ist."
Dabei achten Sie besonders auf?
"Sauberkeit der Wohnung. Sagen wir es direkt: Auf Schmutz, Essensreste, Uringeruch, Hunde, die Dreck machen. Meisen und vieles, vieles mehr."
Dazu benötigen Sie wieder eine Stunde?
"Nein, das geht viel schneller. Doch um noch einmal auf die Stunde der Erstbegutachtung im Haus des Pflegefalles zurückzukommen: Damit ist es ja nicht getan. Anschließend sitze ich im Hause bei mir eine Dreiviertelstunde an der Ausarbeitung, und weitere 45 Minuten bin ich danach noch mit der Eingabe am Computer beschäftigt."
Sie sehen viel Elend. Bedrückt Sie das?
"Auch jeder Kranke, der täglich in meine Praxis kommt, trägt ja ein Häuflein Elend mit sich. Der eine mehr, der andere weniger. Und meine Aufgabe, mein Wunsch ist es, ihm ein wenig von dieser Bürde zu nehmen. Und das bedrückt mich nicht, es macht mir sogar Freude."

Wir bedanken uns bei Herrn Dr. Axel Haines (Dénia)
für die Genehmigung zur Freischaltung!

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